Die Wirtschaftsspionage der DDR


Der Untergang der DDR bietet die historisch einmalige Gelegenheit, tiefgehende Einblicke in die Qualität und Quantität der Arbeit eines modernen Nachrichtendienstes im Allgemeinen und in dessen Wirtschaftsspionage im Besonderen zu bekommen.
Die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere Staaten ist dadurch beschränkt, dass
a) Staaten, die heute Wirtschaftsspionage betreiben, dies mit anderer Intensität und anderen Möglichkeiten (insbesondere technischen) tun, als die DDR vor 1989 und
b) Konkurrenzspionage durch Wettbewerber naturgemäß ebenfalls durch andere Intensität und Möglichkeiten gekennzeichnet ist.
                         
Dennoch gibt es erstens Parallelen, was Prinzipien, Verfahren, grundsätzliche Erkenntnisinteressen und die Schwierigkeit der Verwertung von Informationsgewinnung und –analyse betrifft und zweitens kann man die Wirtschaftsspionage der DDR aufgrund ihrer unbestrittenen Qualität und Quantität mit Ausnahme ihrer technischen Möglichkeiten als worst case für ein Angriffsziel auffassen (z.B. im Hinblick auf Ressourceneinsatz, Zugang zu Gesellschaft, Politik und Unternehmen, Bandbreite der Handlungsmöglichkeiten, Motivation der Verantwortlichen).
                  
Relevanz der Wirtschaftsspionage der DDR
Obwohl das Interesse an der Wirtschaftsspionage der DDR erstaunlich gering ist – im Gegensatz zum Interesse an der Spionage gegen die bundesdeutsche Politik oder gegen Medien und das Militär und eigene Dienste – ist unter den Kennern dieses Bereiches kaum bestritten, dass die Stasi mit einer handwerklich zum weit überwiegenden Teil ausgezeichneten nachrichtendienstlichen Qualität gearbeitet hat. Für sie war nicht nur Gesellschaft, sondern auch Politik, Militär und eben auch die Wirtschaft der Bundesrepublik „ein offenes Buch“ wie Müller-Enbergs formuliert, d.h. erfolgreich infiltriert. Ob die Umsetzung ihrer Erkenntnisse erfolgreich war, ist eine andere Frage.
Die Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) verfügte 1989 über 3.300 hauptamtliche Mitarbeiter, über 700 Offiziere in besonderem Einsatz und über eben so viele hauptamtliche Inoffizielle Mitarbeiter (IM). Von den IM waren 15 Prozent auf die Regierung angesetzt, 14 Prozent auf die Parteien, 25 Prozent auf das Militär und immerhin 52 Prozent auf wirtschaftliche Fragen (13 Prozent Biologie, Energie, Chemie; 17 Prozent Elektronik und Elektrotechnik; 22 Prozent Maschinenbau und Embargowaren). Der Sektor Wissenschaft und Technik (SWT) der HV A verfügte 1989 über 400 Mitarbeiter und es fand darüber hinaus auch Wirtschaftsspionage insbesondere in Form von Beschaffung durch andere MfS-Organisationseinheiten und den Bereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo) statt.
Die Fragen, wer für die Stasi als IM oder Offizier im besonderen Einsatz (OiB) spionierte und wie und warum diese Menschen aktiv wurden sind heute geklärt. Anders als landläufig angenommen wurden nur 7 Prozent der Agenten in die Bundesrepublik eingeschleust, 6 Prozent wurden – als Geschäftsbesucher aus dem Westen – auf der Leipziger Messe angesprochen und gewonnen, 11 Prozent wurden als Reisende aus der DDR zeitlich begrenzt in der Bundesrepublik tätig und 58 Prozent wurden aufgrund der Empfehlung bereits aktiver IM rekrutiert.
Die Motivation war bei 60 Prozent der IM die Überzeugung, bei 27 Prozent materielle Interessen, bei 7 Prozent persönliche Zwänge (z.B. Erpressung mit belastendem Material) und bei 4 Prozent die Vorspiegelung falscher Tatsachen (z.B. gaben sich Agenten der DDR als Angehörige westlicher Dienste aus).
Das MfS stellte Objektstudien zu Firmen und Institutionen an und war 1989 in rund 150 Firmen und Institutionen in der Bundesrepublik eingedrungen. Dabei zeigen die Akten, dass immerhin 85 Quellen Unterlagen von Siemens lieferten, wobei offenbar nur 8 Quellen bei Siemens selbst tätig waren. Die Auswertung erfolgte durch rund 184 Mitarbeiter in einer zentralen Auswerteeinheit, darunter Wissenschaftler mit Zugang zur aktuellen Literatur und Kongressen.
             
Erlebnisberichte wie der des hauptamtlichen HV A-Mitarbeiters Hans Eltgen zeigen, dass Wirtschaftsspionage selbst bei passender Ausbildung der Agenten (Eltgen war Physiker und Nachrichtenoffizier) ohne direkten Zugang zu Zielorganisationen so gut wie nicht machbar ist. Eltgen wirbt Agenten aus Überzeugung, gegen Geldzahlungen oder aufgrund persönlicher Gründe (z.B. der Absicht, dem vermeintlichen Sohn des verstorbenen besten Freundes zu einer Arbeit zu verhelfen) an.
Das Beispiel Computer zeigt deutlich die Grenzen der DDR-Wirtschaftsspionage. So konnte die DDR zwar bis 1970 rund 12 IBM-Computer verdeckt erwerben und es gelang ihr auch ab 1973 zwischen 80 und 100 Computer selbst zu erzeugen, so Macrakis, aber ihre Computerindustrie erreichte nicht annähernd die Bedeutung selbst kleiner westlicher Staaten und blieb bis zuletzt uneinholbar Jahre hinter dem westlichen Stand zurück. Offenbar haben selbst die Größen der Stasi versucht die PR-Aktivitäten der politischen Führung zu verhindern, die die Ergebnisse aus durch Spionage gewonnenen Wissen als Eigenleistung zu verkaufen – jedenfalls behauptet das Werner Großmann, letzter Chef der DDR-Aufklärung.
                   
Leipziger Messe: Ort ungezählter Anbahnungen
                
Kennzeichen der Wirtschaftsspionage der DDR
1. Die Wirtschaftsspionage hat – ähnlich wie die übrige Spionage – große Kontinuität und Geduld an den Tage gelegt und z.B. in den 50er Jahren Agenten in die Bundesrepublik geschleust, die bis in die 80er Jahre aktiv waren, oder Studenten angeworben bzw. jungen Leute zu relevanten Studien angeregt, um sie Jahre, zum Teil über ein Jahrzehnt später in Positionen mit Einblicken in relevante Themen nutzen zu können. Immerhin 5 Prozent der Agenten war seit den 50ern im Einsatz, die Hälfte war länger als 10 Jahre aktiv.
          
2. Die Spionage konnte trotz ihres scheinbar genauen Bildes von der Situation der Bundesrepublik und des Westen insgesamt weder der politischen Führung die Angst vor einem Präventivschlag des Westens nehmen, noch den Irrglauben ausräumen, dass die wirtschaftliche Rückständigkeit mit nicht-marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen aufzuholen sei wie Dörrenberg betont.
                   
3. Die Spionage konnte der DDR trotz erfolgreicher Beschaffung von Informationen und Embargoware keine erfolgreiche Computerindustrie verschaffen. Dazu war weder die volkswirtschaftliche Situation der DDR geeignet, noch die Industrie in der Lage. Im Gegenteil scheint der Verzicht auf Wettbewerb neben der Abschottung durch den Westen und das eigene repressive System verhindert zu haben, dass Informationen erfolgreich genutzt werden konnten.
                      
4. Die HV A litt offenbar trotz der Beschränktheit ihrer technischen Mittel unter einer Informationsüberflutung, die auch mit der großen Zahl engagierter Wissenschaftler und anderer Experten nicht beherrschbar war.
             
5. Es ist kaum zu beziffern, welche Summe aufgrund der DDR-Wirtschaftsspionage gespart (Entwicklungskosten) bzw. eingenommen wurde (Umsätze durch eigene Industrie) und welchen Erfolg das bewirkte. Neben den Personalkosten und anderen Kosten müßten auch die Kosten für die Beschaffung von Embargoware hinzugerechnet werden (zumal die Käufe in Devisen erfolgte). Die Versteifung auf das Ziel, selbst Computer herstellen zu wollen und die erfolgreiche Embargobrechung hat letztlich ein Faß ohne Boden bewirkt, in dem Devisen verschwanden. Damit hat die illegale Technologiebeschaffung mit dazu beigetragen, das Ende der DDR einzuläuten, so Buthmann.
         
6. Offenbar sind im wirtschaftlichen Bereich keine aktiven Maßnahmen durchgeführt worden, d.h. Täuschung in größerem Umfang (z.B. über die wirtschaftliche Situation der DDR), Sabotage gegen bundesdeutsche Unternehmen und Branchen (z.B. mit Hilfe der Initiierung oder Förderung von kritischen Nichtregierungsorganisationen) oder Angriffe auf die bundesdeutsche Volkswirtschaft insgesamt (z.B. auf die Währung Deutsche Mark, den deutschen Kapitalmarkt oder das Image des „Made in West Germany“).
               
7. Offenbar spielte bei der DDR der Embargobruch und der Nachbau von westlichen Produkten eine wesentliche Rolle bei der Wirtschaftsspionage.
                     
Lehren aus der Wirtschaftsspionage der DDR
1. Man kann davon ausgehen, dass Wirtschaftsspionage anderer Staaten heute zwar möglicherweise nicht die Kontinuität der DDR, aber wenigstens eine mittelfristige Perspektive einnimmt und somit bereits Praktikanten, Diplomanden und Doktoranden gezielt eingeschleust sein können. Weiterhin kann nach wie vor versucht werden, Bewerber über den längeren Umweg einer weniger relevanten Stelle in eine interessante Zielposition zu bringen.
                 
2. Der Zugang zu Informationen und selbst deren korrekte Auswertung bedeutet nicht zwingend, dass die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger nicht entweder a) gefilterte und interpretierte oder manipulierte Ergebnisse erhält oder b) diese aufgrund eigener Einstellung falsch interpretiert.
            
3. Die volkswirtschaftliche Situation und der Zustand der Industrie ist entscheiden für die Verwertbarkeit von Information und Analyse. In der Tat gilt auch bei anderen Staaten und ihren Volkswirtschaften und Unternehmen, dass Innovationen nur dort sinnvoll sind, wo zwischen Erfindung und Verwertung, d.h. Produktion kurze Wege bestehen. Selbst bei ausgezeichneter Informationsbeschaffung und –auswertung hängt der Erfolg davon ab, diese Ergebnisse auch nutzbringend beim Empfänger zu integrieren. Wenn Staaten, Branchen eines Staates oder Unternehmen nicht technisch „auf Augenhöhe“ mit dem Gegenüber des Ziellandes sind, wird es ihnen schwer fallen, Nutzen aus der Wirtschafts-spionage zu ziehen. Dies dürfte bei vielen Projekten in Staaten der Dritten Welt oder Schwellenländern nicht der Fall sein. Wenn diese Staaten ihre heimische Industrie durch Wirtschaftsspionage zu Abhängigkeiten von Impulsen von außen erziehen, Innovationen trotz Einsparung der Entwicklungszeit und –kosten durch Zeitverzug bei der Beschaffung von Informationen verzögert werden und für illegal beschaffte Technologie weder Service noch Ersatzteillieferung möglich sind, können sie diese auch schwächen statt stärken.
                  
4. Obwohl die DDR sich offensichtlich primär auf human intelligence abstützte litt sie unter zu viel Informationen. Heute kommt bei allen relevanten Nachrichtendiensten umfangreiche signals intelligence hinzu. Die Gefahr der Informationsüberflutung ist also noch größer, während die Zahl der Mitarbeiter dieser Dienste nicht in gleichem Maße ausbaubar ist wie dies in der DDR möglich war. Gleichzeitig sind viele Dienste von Drittwelt- und auch Schwellenländern ebenfalls mit umfangreichen Repressionsmaßnahmen gegen eigene Bürger im In- und Ausland beschäftigt.
                
5. Die Weise in der sich einige Drittwelt- und Schwellenländer mit Industrieprojekten abmühen – besonders im Rüstungsbereich – ähnelt dem Verhalten der DDR (z.B. im Fall Computerindustrie). Genau so fraglich ist bei einigen der Sinn der Kosteneinsparung und der Image- und Vertrauensverlust bei den ausspionierten Staaten.
              
6. Der Gedanke der aktiven Maßnahmen ist nicht so abwegig wie er auf den ersten Blick scheint. Zwar ist es für einen Staat, der primär Interesse an der Gewinnung und Nutzung von Informationen eines anderen hat, kontraproduktiv, diesen auch noch zu schädigen. Aber angesichts von zwischenstaatlichen Konflikten mit Boykottmaßnahmen und Angriffen auf Infrastruktur sind aktive Maßnahmen keine von der Hand zu weisende Möglichkeit.
                 
7. Das reverse engeneering, der Nachbau von z.B. durch Embargobruch gewonnener Produkte, ist heute weltweit – z.B. in größerem Umfang in Asien – weiter verbreitet, als zur Hochzeit der DDR. Hier dürfte neben dem Nachbau von Rüstungsgütern eine der größten Zukunftsgefahren auch für andere Branchen liegen (z.B. staatlich geförderte Generika-Industrie, d.h. strategische Produktion von Nachahmerprodukten).
          
Verweise
Krieg im Dunkeln. Desinformation und Aufklärung der Staatssicherheit
Psychologische Kriegführung im Hörfung: Zweiter Weltkrieg und Kalter Krieg
             
Literatur
- R. Buthmann: Die Organisationsstruktur zur Beschaffung westlicher Technologien im Bereich der Mikroelektronik. In: G. Herbstritt und H. Müller-Enbergs (Hg.): Das Gesicht dem Westen zu. DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland. Bremen 2003.
- D. Dörrenberg: Erkenntnisse des Verfassungsschutzes zur Westarbeit des MfS. In: Herbstritt und Müller-Enbergs 2003.
- H. Eltgen: Ohne Chance. Erinnerungen eines HV A-Offiziers. Berlin 1995.
- W. Großmann: Bonn im Blick. Die DDR-Aufklärung aus der Sicht ihres letzten Chefs. Berlin 2001.
- K. Macrakis: Führt effektive Spionage zu Erfolgen in Wissenschaft und Technik? In: Herbstritt und Müller-Enbergs 2003.
- H. Müller-Enbergs: Was wissen wir über die DDR-Spionage? In: Herbstritt und Müller-Enbergs 2003.