Seiten

Verantwortung von Medien bei Amok-Verbrechen

Verantwortlich für Amokverbrechen, z.B. sogenannten School-Shootings, sind in allererster Linie die Täter. Trotz der Planlosigkeit und Hysterie vieler öffentlicher Diskussionen um das Tatmittel "Schußwaffe", neben dem es auch unlängst mehrfach die potentiellen oder tatsächlichen Tatmittel Messer und/oder Spreng- und Brandmittel gab, sollte man nicht den gleichen Fehler machen und nunmehr "die Medien" zu Schuldigen stempeln. Auch dann nicht, wenn einige Medien an der Suche nach falschen Schuldigen ("die Waffenlobby", "Waffen in privater Hand") und Begriffsverwirrung ("Waffenschein", "Großkaliber") oder generell falscher Darstellung erheblichen Anteil haben.
Erfreulicherweise gibt es aber nicht nur Legalwaffenbesitzer und ihre Organisationen, von denen jeweils einige wenige Falschdarstellungen in den Medien korrigieren. Es gibt auch Institutionen, die das Tun der Medien kritisch begleiten. Nein, der Presserat ist damit nicht gemeint, denn erstens wird er nur auf Antrag tätig und zweitens beurteilen dabei Journalisten ihresgleichen unserer Meinung nach nicht nur zu milde, sondern auch zu sehr nach ihren eigenen Maßstäben und zu wenig nach den Maßstäben von Opfern schlechter und/oder verzerrender Berichterstattung.

Mit Interesse haben wir gesehen, daß das Weblog "Bildblog", ein privates Instrument, das zur kritischen Beobachtung der Bildzeitung geschaffen wurde und sich nunmehr mit den Fehlleistungen von Medien im Allgemeinen beschäftigt, auch gelegentlich das Thema Waffen und Waffenrecht aufgreift. Das tut das Bildblog nicht im Sinne und Interesse der Legalwaffenbesitzer - das soll es unserer Meinung nach auch gar nicht - sondern im Interesse einer wahren Berichterstattung und möglicherweise sogar im Interesse einer Gesellschaft, die wahre Berichterstattung braucht, um Meinung und Willen zu bilden.
Einige Beispiele:


Naturgemäß erhält die Bildzeitung trotz des inzwischen geänderten Fokus einen breiten Raum. Kritisch angesprochen wird hierbei die Berichterstattung über Winnenden: "Die "Süddeutsche Zeitung" hat die Gießener Kriminologin Britta Bannenberg gefragt, wie hoch die Nachahmungseffekte bei Amokläufern sind, und sie hat geantwortet: 'Sehr hoch. Auch wegen der Medien, die das Gesicht des Täters, seine Waffen, seine schwarze Kleidung zeigen und ein mystisches Bild von ihm zeichnen. Das wirkt wie ein Vorbild. Bei Selbstmorden sind die Medien sehr zurückhaltend, um nicht Nachahmer zu provozieren. Bei Amokläufen gilt leider das Gegenteil. Ab jetzt besteht die große Gefahr, dass wir es in den nächsten Wochen oder Monaten mit einem Nachahmungstäter zu tun bekommen.'
Dieser Gedanke kommt oft zu kurz in den Medien: dass nicht nur Killerspiele möglicherweise eine gefährliche Wirkung auf labile Jugendliche haben können, sondern auch ihre eigene Berichterstattung. Das betrifft nicht nur "Bild", sondern fast alle Medien. Aber wenn es vor allem wichtig ist, die Täter nicht in einer Heldenpose zu zeigen, hatte "Bild" eine besonders schlechte Idee. Die Zeitung zeigt Tim K., den Amokläufer von Winnenden, in einer Pose, die ihm selbst bestimmt am besten Gefallen hätte. Sie hat sein Gesicht auf das Foto eines Mannes in schwarzer Kampfuniform montiert, die Waffe drohend in Richtung Kamera gerichtet. Das Heldenfoto hat Postergröße, ist fast einen halben Meter hoch ... Zusätzlich hat sich der "Bild"-Zeichner ausgemalt, wie das wohl ausgesehen hat in dem Klassenzimmer zwischen Tafel und Overheadprojektor, als Tim K. in seiner schwarzen Rächeruniform gerade ein Mädchen erschoss. ... Dafür hat Bild.de ein kleines Familienalbum des siebzehnjährigen Täters im Angebot - nicht weniger als sieben private Fotos, die ihn als kleines Kind und als Jugendlicher zeigen und die vor allem bei Tischtennisturnieren entstanden sind."
http://www.bildblog.de/6413/wie-bild-den-amoklauf-in-szene-setzt/

Offenbar ist das Schlagwort "Amok" inzwischen ungeachtet der Folgen einigen Medien für jede Berichterstattung recht. Das Bildblog berichtet einen anderen Fall, in dem tatsächlich gar kein Amoklauf stattgefunden hatte: "Was genau der auslösende Faktor für Amokläufer und Trittbrettfahrer ist, ist nicht klar – bei Experten steht die umfassende Medienberichterstattung mit an vorderer Stelle (siehe Kasten). Doch gleichzeitig kann ein Amoklauf das Publikum fesseln wie kaum eine andere Katastrophe. ... Als am frühen Nachmittag die Nachricht über einen Polizeieinsatz an einer Schule in Zwickau bekannt wurde, reagierte die dpa ohne zu Zögern. In einer Eilmeldung verbreitete sie um 13.22 Uhr die alarmierende Nachricht:
Amoklauf an Zwickauer Berufsschule vereitelt. Die Polizei hat an einer Berufsschule im sächsischen Zwickau am Dienstag einen Amoklauf vereitelt. Der mutmaßliche Täter wurde festgenommen, es gab keine Verletzten. Weitere Einzelheiten wollte die Polizei zunächst nicht mitteilen. Gegen Mittag war bei der Polizei ein Notruf eingegangen. Alle verfügbaren Einsatzkräfte hätten unverzüglich die Schule umstellt, hieß es. Die anderen Nachrichtenagenturen zeigten sich angesichts der vagen Faktenlage etwas vorsichtiger. So meldete die AFP um 13.40 Uhr: "Großeinsatz der Polizei an Berufsschule in Zwickau – eine Festnahme"; AP titelte: "Polizei vereitelt möglicherweise Amoklauf in Zwickau". Welche Version bei den Redaktionen am Besten ankam, ist kaum verwunderlich: Nachdem sich herausstellte, dass der Verdächtige weder Waffen, noch konkrete Amok-Pläne hatte, knickte auch die dpa ein, sprach um 14.55 Uhr nur noch von einem "Amokalarm" — und meldete: Von einem Amoklauf könne keine Rede sein, sagte der Sprecher des sächsischen Innenministeriums, Frank Wend. Aber schon um 16.45 Uhr ist das alles wieder passé."
Erstklassig recherchiert und zusammengefaßt, meinen wir.
http://www.bildblog.de/11889/besonnenheit-vereitelt/

Unfreiwillig komisch trotz des ernsten Hintergrundes ist die Aufarbeitung der Begriffsverwirrung "Waffenschein" kontra "Waffenbesitzkarte". So schreibt das Bildblog: "Der 60-jährige Koch aus Dingolfing, der gestern in einem Gerichtsgebäude in Landshut um sich schoss und dabei seine Schwägerin tötete, muss ein gefährdeter Mann gewesen sein. Einer, der zu seiner Sicherheit unbedingt eine Waffe braucht. Und einer, der neben seiner Tätigkeit als Koch auch noch andere Jobs gemacht hat. Polizist beispielsweise. Oder Bodyguard. Deswegen durfte er seine Waffen samt Munition auch in der Öffentlichkeit tragen, im Gegenzug allerdings musste er seinen Waffenschein alle drei Jahre neu beantragen. Sie staunen? Unsinn, sagen Sie? Stimmt. Der 60-jährige Koch aus Dingolfing hätte die Voraussetzungen für einen Waffenschein mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht erfüllt und einen solchen auch nicht bekommen. Und dass man ihm diesen Waffenschein auch noch gleich 40 Jahre lang gewährte hätte, ist ebenfalls sehr unwahrscheinlich. Tatsächlich war der Mann also Inhaber einer Waffenbesitzkarte, die deutlich leichter zu erhalten ist als ein Waffenschein."
http://www.bildblog.de/6990/der-unterschied-zwischen-sein-und-schein/

Übrigens: Man kann solche medialen Ausfälle dem Bildblog mitteilen. Vielleicht trägt das ja etwas zur Sorgfalt im Umgang mit der Berichterstattung über Waffen/Legalwaffen bei: http://www.bildblog.de/kontakt/

Stefan Niggemeier ist Medienjournalist, Mitgründer des Bildblog und betreibt zusätzlich ein weiteres Medien-Watchblog. Auch er befaßt sich mit Winnenden - hier mit den Fragen, woher die Fotos kommen und welche Auswirkungen die Berichterstattung haben kann.

Zu dem Geschäft mit den Opfern schreibt er: "Beim Amoklauf am 11. März haben Petra und Uwe Schill ihre Tochter Chantal verloren. Immer noch erleben sie, wie Medien und Bilderhändler über das Bild ihrer Tochter verfügen, das ein Schulfotograf im Jahr 2008 aufgenommen hatte. Der „Stern” hatte sich das Foto beschafft. Später tauchte es in „Emma” auf, und die Agentur „ddp” bietet es immer noch zahlenden Kunden zum Abdruck an. (…) Der „Stern” hat schon viel Verstecktes ans Licht der Öffentlichkeit gebracht, aber auf welchen Kanälen er Privatfotos von Mordopfern bezieht, das hält er geheim. Ein „Stern”-Fotoredakteur verweist auf seinen Chef. Der Chef verweist auf „die Chefredaktion”, ohne eine Telefondurchwahl herauszurücken. „Die Chefredaktion” meldet sich am Telefon und erklärt, dass Anfragen nur schriftlich beantwortet werden. „Zu Quellen, die der Stern bei seinen Recherchen benutzt, sagen wir aus grundsätzlichen Schutzgründen nichts”, schreibt dann Katharina Niu im Auftrag der Chefredaktion. ... Den Handel mit Bildern von Jugendlichen, die ermordet wurden, hält niemand auf."
War der Stern nicht das Blatt mit diesem unfairen Artikel über Legalwaffenbesitzer neulich ("Waffennarren")?

Niggemeier zitiert weiters den britischen Fernsehkritiker Charlie Brooker, der in der BBC-Show „Newswipe” die Berichterstattung über Winnenden wegen der Nachahmergefahr kritisiert: "Er zeigt unter anderem ein Interview mit dem Psychologen und Kriminologen Park Dietz, in dem der erzählt: 'Seit 20 Jahren habe ich zu CNN und den anderen Medien immer wieder gesagt: Wenn ihr nicht dazu beitragen wollt, dass es weiterer Massenmorde gibt, fangt Eure Geschichten nicht mit dem Geheul der Sirenen an, zeigt keine Fotos des Mörders, macht daraus keine 24-Stunden-Live-Berichterstattung, vermeidet es soweit wie möglich, mit der Zahl der Toten aufzumachen, stellt den Mörder nicht als eine Art Anti-Helden dar, macht stattdessen aus der Berichterstattung eine lokale Geschichte für die betroffenen Gemeinden und macht den Fall so langweilig wie möglich für alle anderen Märkte. Denn jedesmal, wenn wir ausufernde, intensive Berichterstattung über einen Massenmord haben, erwarten wir ein oder zwei Nachahmungstäter innerhalb einer Woche.'

Und schließlich hat Niggemeier etwas ganz Spannendes zum Thema Kommerzialisierung ausgegraben. Die Zeit hat bei Google mit den Schlagwörtern "Amok" und "Winnenden" geworben (Waren das nicht die mit der chronisch negativen Berichterstattung über Legalwaffenbesitzer?): "Ist es eigentlich auch pervers, dass Zeit.de sofort Anzeigen bei Google geschaltet hat, die eingeblendet werden, wenn man nach „Amoklauf” oder „Winnenden” sucht? Wäre es pervers, wenn sich ein Online-Medium die Adresse amoklauf.de gesichert und von dort aus in sein entsprechendes Ressort umgeleitet hätte? Und wie fiele das Urteil bei irakkrieg.de, weltwirtschaftskrise.de, kindsentfuehrung.de aus?" Man sieht ein Google Advertising mit dem Text: "Amoklauf Winnenden. Mindestens 16 Tote - Aktuelle Infos auf Zeit Online" und deren Internetadresse.

Alle drei Beispiele unter: http://www.stefan-niggemeier.de/blog/tag/winnenden/

Volltext der Studie zur Gefährdung durch Legalwaffen der Universität Bremen