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Amokverbrechen von München: Beginn einer Aufarbeitung

Die schrecklichen Ereignisse des Amokverbrechens von München stecken selbst noch all denen in den Knochen, die am Abend des 22. Juli nur über die Medien mitbekommen haben, was sich ereignet hat. Ganz zu schweigen von Opfern, Angehörigen und Zeugen. Dieses Verbrechen macht so fassungslos, dass Spekulationen und politische Instrumentalisierung schlicht unterbleiben sollten.
Leider ist es aber nicht so und bevor die Polizei ihre Ermittlungen abgeschlossen hat, beginnt schon am Folgetag eine Diskussion, der es an Fakten und Sachverstand mitunter mangelt. Wir wollen hier dokumentieren, was an Fehlern oder zumindest Fragwürdigem geäußert wird - schon damit man daraus lernen kann, Bemühungen, die darauf abzielen, das Schreckliche zu wiederholen, auf eine solide Basis zu stellen. Naturgemäß wird sich dieser Text deshalb über die kommenden Tage weiter entwickeln.
Zurzeit bekannt ist:

Zum Täter
  • Der Täter, ein 18-jähriger Iraner mit deutscher Staatsangehörigkeit, Ali David S. aus München, tötete mit einer Glock 17 im Kaliber 9x19 am Abend des 22. Juli 2016 beginnend in einem McDonalds Restaurant am Olympia Einkaufszentrum in München (OEZ) 9 Personen und verletzte weitere zum Teil schwer.
  • Er war in psychiatrischer Behandlung (auch mehrwöchig stationär), nahm Psychopharmaka und beschäftigte sich intensiv mit Amokverbrechen bis hin zu einem Besuch am Tatort des Verbrechens von Winnenden 2015.
  • Er brachte in einer Art Manifest seinen Menschenhass zum Ausdruck.
  • Er spielte intensiv gewaltverherrlichende Spiele am Computer und bedrohte dabei auch Mitspieler.
  • Er scheint einen Mitwisser gehabt zu haben, einen 16-jährigen Afghanen, den er in einer psychiatrischen Einrichtung kennengelernt hat, dem der Waffenbesitz bekannt war und mit der er scheinbar bis kurz vor der Tat in Kontakt stand.
  • Der Vater des Täters hat seinen Sohn auf den verwackelten Filmaufnahmen erkannt, die im Verlaufe der Tat im Internet zu sehen waren und sich daraufhin zur Polizei begeben (fraglich ist, wieso er seinen Sohn so schnell dem monströsen Verbrechen zuordnen konnte).
Zu den Opfern
  • Insgesamt gibt es 35 Verletzte, davon sind 10 schwer verletzt.
  • Die Opfer waren auffällig jung: 14 Jahre alt (3 Tote), 15 (2), 17, 19 und 20 sowie 45. Die Mehrheit hat wie der Täter einen Migrationshintergrund. Es scheint sich um Zufallsopfer zu handeln.
  • Es ist bislang auch kein persönlicher Zusammenhang zwischen Täter und Opfer erkennbar, auch wenn der Täter offenbar versucht hat, mittels eines fiktiven Accounts bei Facebook andere Menschen in das Schnellrestaurant zu locken.
Zur Waffe und Schussabgabe
  • Tatwaffe ist eine Glock 17, die zuerst nicht schussfähig gemacht wurde („Theater-“ oder „Dekowaffe“), dann aber (von wem auch immer) illegal reaktiviert wurde.
  • Sie scheint aus Osteuropa zu stammen: Die Waffe trägt laut Medien ein „Prüfzeichen“ aus der Slowakei (ist es ein „Beschusszeichen“ oder eine Markierung zur Deaktivierung?).
  • Der Täter hatte keine waffenrechtliche Erlaubnis und die Waffennummer ist scheinbar entfernt worden.
  • Scheinbar hatte auch kein Familienmitglied eine waffenrechtliche Erlaubnis.
  • Die Polizei vermutet, laut Süddeutscher aufgrund eines Chat-Verlaufes, dass Ali S. sich die Waffe im sogenannten Dark Net beschaffte, dem anonymeren Teil des Internet, in dem auch andere illegale Waren und Dienstleistungen vertrieben werden.
  • Es wurden 57 Patronenhülsen gefunden, die Ali S. zugerechnet werden.
  • Auf einem Video ist eine schnelle Schussfolge zu hören. Es ist noch nicht geklärt, ob der Täter an Waffen ausgebildet war.
  • Der Täter führte weitere rund 300 Schuss in einem Rucksack mit.
  • Legaler Waffenbesitz oder -handel ist zu keinem Zeitpunkt tatrelevant gewesen.
Zur Berichterstattung
  • Die Medien berichteten nicht nur intensiv, sondern nannten auch seinen vollen Namen noch am Tatwochenende und publizierten viele verschiedene Fotos des Täters.
Reaktionen der Politik
Ausgerechnet der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Stephan Mayer äußerte sich wie folgt:
 „Wenn Waffen ins Ausland verkauft werden, dann muss das unter der Kontrolle einer öffentlichen Stelle – etwa einer Polizeibehörde – geschehen“. Der Tagesspiegel formulierte weiter: Nach dem Amoklauf von München hat der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Stephan Mayer, verschärfte Kontrollen beim grenzüberschreitenden legalen Waffenhandel innerhalb der EU gefordert. ... Dies müsse bei der Umsetzung der derzeit in Brüssel zur Beratung anstehenden EU-Feuerwaffenrichtlinie in Deutschland beachtet werden, sagte Mayer weiter.
Er sollte sich als innenpolitischer Sprecher noch besser auskennen, denn egal von wem oder an wen eine Waffe verkauft wird und zwar egal ob aus dem Ausland oder in das Ausland und egal ob der Kauf per Internet oder über einen Händler erfolgt: Es ist auch heute schon immer die Behörde einzuschalten. Im Einzelnen:
  • Kurzwaffen wie die Glock darf man gar nicht ohne Voreintrag der Behörde kaufen, d.h. der Kauf ist für ein bestimmtes Kaliber vorher genehmigt und eingetragen (oder eben auch z.B. mangels Bedürfnis und/oder Zuverlässigkeit verweigert) oder man darf gar keine Kurzwaffe kaufen.
  • Der vollzogene Kauf muss auch innerhalb von 14 Tagen eingetragen werden.
  • Bei Kurzwaffen muss sogar die Erlaubnis zum Munitionserwerb eingetragen sein, sonst darf man keine Patronen kaufen obwohl man die Waffe besitzt.
  • Bei Langwaffen muss je nach waffenrechtlicher Erlaubnis auch vorher oder innerhalb von 14 Tagen nachher ein Eintrag erfolgen.
  • Bei Reisen aus Deutschland ins Ausland muss die Bundespolizei bei Ausfuhr (z-B. durch die Fluglinie) und der Zoll bei Einfuhr informiert werden.
  • Zudem würde eine heimlich ausgeführte und deshalb fehlende Waffe, die der Waffenbesitzer illegal verkauft hätte, bei der inzwischen anlasslosen Kontrolle fehlen – ein unkalkulierbares Risiko und deshalb auch unmöglich.
Weiter heißt es:
„Der Unions-Innenexperte Mayer erklärte, dass bei bevorstehenden Umsetzung der EU-Feuerwaffenrichtlinie in Deutschland sichergestellt werden müsse, dass der Waffenhandel über das 'Darknet' unterbunden werde.“
Genauso gut könnte er fordern, es müsse sichergestellt werden, dass der illegale Waffenhandel hinter den Bahnhöfen z.B. Belgiens oder Westdeutschlands unterbunden werde. Das Charakteristikum des Waffenhandels über das Darknet ist ja gerade, dass er nicht nur bereits illegal, sondern eben auch verborgen ist – quasi die virtuelle Entsprechung des Hinterzimmers in Bahnhofsnähe. Der Gesetzgeber kann etwas bereits Illegales nicht noch illegaler machen. Es ist vielmehr Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden (genau wie im Bahnhofsbeispiel), illegale Strukturen und Täter aufzuklären und zu verfolgen.

Bundesinnenminister De Maizière äußerte sich scheinbar zum Waffenrecht. So heißt es bei n-tv:
De Maizière erwägt Verschärfung des Waffenrechts. Der 18-jährige Schüler David Ali S. erschoss seine Opfer mit einer Neun-Millimeter-Glock-Pistole. Weil die Seriennummer ausgefeilt wurde, weiß niemand, woher die Waffe stammt – dass der Amokläufer illegal in ihren Besitz gekommen ist, scheint aber klar.“
Die Waffe war illegal und somit hat das geltende Recht nicht gegriffen, aber es wird vom Innenminister jetzt eine Verschärfung eben dieses Rechts überlegt, obwohl in seinem Verantwortungsbereich die Anwendung geltenden Rechts liegt?

Sogar die Bundeskanzlerin setzte unverständlicherweise angesichts der von den Medien als "Blutwoche" bezeichnete Zäsur der Inneren Sicherheit in Deutschland beim Waffenrecht an:
"Merkel forderte auch eine zügige Verabschiedung der lange geplanten europäischen Richtlinie zum Waffenrecht. Damit solle der Waffenhandel über das Internet unterbunden werden, sagte sie. Der Amokläufer von München hatte sich seine Waffe im Darknet, einem abgeschotteten Teil des Internets, besorgt."

Wie gesagt, keine Rechtsprechung verhindert illegalen Waffenhandel hinterm Bahnhof und genau so wenig wird sich der illegale Waffenhandel im Darknet durch Gesetze oder gar weitere Entrechtung legaler Waffenbesitzer durchsetzen lassen. Das ist Polizeiarbeit (z.B. über Scheinkäufe - eben genau wie am Bahnhof). Zudem soll auch der legale Handel über das Internet verboten werden, also egun und Co. Das hört sich ein bisschen so an, als sei bei jemandem das linke Bein krank und zur Heilung amputiere man das rechte: falscher Ansatzpunkt und radikale "Heilung".

Mediale Verarbeitung
Wieder einmal zeigt sich, dass viele Medien offenbar nichts aus der Aufarbeitung anderer Amokverbrechen gelernt haben. Vor mehreren Jahren veröffentlichte dieses Blog einen Beitrag zur Verantwortung der Medien bei Amokverbrechen, in dem unter anderem folgende Zitate standen:
Die Süddeutsche Zeitung hat die Gießener Kriminologin Britta Bannenberg gefragt, wie hoch die Nachahmungseffekte bei Amokläufern sind, und sie hat geantwortet: 'Sehr hoch. Auch wegen der Medien, die das Gesicht des Täters, seine Waffen, seine schwarze Kleidung zeigen und ein mystisches Bild von ihm zeichnen. Das wirkt wie ein Vorbild. Bei Selbstmorden sind die Medien sehr zurückhaltend, um nicht Nachahmer zu provozieren. Bei Amokläufen gilt leider das Gegenteil. Ab jetzt besteht die große Gefahr, dass wir es in den nächsten Wochen oder Monaten mit einem Nachahmungstäter zu tun bekommen.
Der britischen Fernsehkritiker Charlie Brooker kritisierte in der BBC-Show „Newswipe” die Berichterstattung über Winnenden wegen der Nachahmergefahr: “Er zeigt unter anderem ein Interview mit dem Psychologen und Kriminologen Park Dietz, in dem der erzählt: 'Seit 20 Jahren habe ich zu CNN und den anderen Medien immer wieder gesagt: Wenn ihr nicht dazu beitragen wollt, dass es weiterer Massenmorde gibt, fangt Eure Geschichten nicht mit dem Geheul der Sirenen an, zeigt keine Fotos des Mörders, macht daraus keine 24-Stunden-Live-Berichterstattung, vermeidet es soweit wie möglich, mit der Zahl der Toten aufzumachen, stellt den Mörder nicht als eine Art Anti-Helden dar, macht stattdessen aus der Berichterstattung eine lokale Geschichte für die betroffenen Gemeinden und macht den Fall so langweilig wie möglich für alle anderen Märkte. Denn jedes Mal, wenn wir ausufernde, intensive Berichterstattung über einen Massenmord haben, erwarten wir ein oder zwei Nachahmungstäter innerhalb einer Woche.'
In einem anderen Beitrag haben wir Charakteristika von Amokverbrechen an Schulen herausgearbeitet, die sich auch jetzt bestätigen:
Es scheint relativ gesichert, dass eine bestimmte Konstellation äußerer Einflüsse vorliegt, die langfristig zusammenwirken, um ein Amokverbrechen zu verursachen.
Dazu zählen in etwa einem Drittel der Fälle psychiatrische Zustände aufgrund von Drogenkonsum, Erkrankungen oder Verletzungen.
Häufiger sind unzureichend ausgeprägte Fähigkeiten, Probleme und Konflikte angemessen verarbeiten zu können (z.B. den Verlust von Status, Beziehungen oder Gesundheit). In einer Dokumentation konnte eine extrem hohe Zahl vorangegangener Suiziddrohungen oder –versuche nachgewiesen werden. Der Amoktäter von Blacksburg/USA schrieb z.B. vor der Tat: „Ihr habt mein Herz verwüstet, meine Seele vergewaltigt und mein Gewissen in Brand gesetzt“.
Das soziale Leben ist offenbar stark von Ausgrenzungen und wenig von stabilen Bindungen gekennzeichnet. Hinzukommendes schulisches, berufliches und/oder privates Versagen ist widersprüchlicherweise oft von überdurchschnittlicher Intelligenz begleitet.
Stark scheint der exzessive Konsum von gewalttätigen Inhalten ausgeprägt zu sein, etwa von Filmen, Büchern und (Computer-)Spielen bis hin zur eigenen Produktion solcher Inhalte. Dabei spielen Motive wie Rache, Tod oder Gewalt eine herausragende Rolle. Damit einher geht der zentrale Vorgang des Abgleiten des späteren Täters in eine Nebenrealität. Möglicherweise ist nicht so sehr die Senkung der Hemmschwelle zu töten durch Medienkonsum entscheidend, sondern die Vorbildfunktion im Sinne eines „Drehbuches“ oder einer „Anleitung“ (Wie kann ein „Rachefeldzug“ bzw. Amokverbrechen aussehen bzw. wie muss er aussehen, um medial in einer als positiv verstehbaren Art wahrgenommen zu werden?). ...
Alle diese Parameter sind jedoch offenbar nicht sicher prognosefähig nutzbar, so dass ein Frühwarnsystem schwierig zu entwickeln ist. Häufig jedoch haben tatsächliche oder potentielle Amoktäter ihre Tat durch Andeutungen, Drohungen oder unbewusste Hinweise angekündigt (z.B. im Internet, im Gespräch im Freundes- oder Familienkreis, gegenüber Mitschülern) und vorangegangene Amokverbrechen oder andere Gewalttaten intensiv verfolgt und analysiert. Oft erfolgten dabei sogar Hinweise gegenüber mehreren Personen oder mehrfach gegenüber denselben Personen.

Vorläufiges Resümee
Festzuhalten bleibt bis jetzt also, dass es sich, soweit die Erkenntnisse der Behörden veröffentlicht sind, bei dem schrecklichem Geschehen von München um ein „klassisches“ Amokverbrechen handelt, das mit einer illegalen Waffe, die auf illegalem Wege beschafft wurde, begangen wurde. Es ist nicht erkennbar, dass waffenrechtliche Verschärfungen oder gar ein Totalverbot privaten Legalwaffenbesitzes irgendeinen Einfluss auf das Geschehen gehabt haben könnten.
Weiterhin zeigt sich wieder, dass die Berichterstattung im Hinblick auf mögliche Nachahmer oftmals wenig verantwortungsvoll ist und – anders als noch 2009 – heute sehr viel stärker durch mobile Endgeräte und soziale Netzwerke getrieben ist.