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Dünkirchen - was ist Fiktion?

Großbritannien ist nicht mehr groß. Das Land zieht sich aus der EU zurück, anstatt dort eine Führungsrolle zu übernehmen, wird mit einer fragwürdigen Koalition regiert und steht möglicherweise vor dem zweiten Versuch der Schotten innerhalb von zwei Jahren, unabhängig zu werden. Militärisch sind die besten Zeiten auch vorbei: die Namen berühmter Regimenter gehen auf Kompanien über oder verschwinden ganz und in asymmetrischen Kriegen gibt es wenig sichtbare Erfolge. Was liegt da näher, als wieder einmal den Zweiten Weltkrieg zu bemühen, um irgendeinen heroischen Unterhaltungsstoff zu finden.
Das britische Expeditionsheer ist 1940 geschlagen und zieht sich auf die britischen Inseln zurück. Frankreich steht nach nur 44 Tagen und Nächten Kampfhandlungen kurz vor der Kapitulation. Und jetzt erfolgt das Wunder - behaupten jedenfalls die Bild und der neue Film "Dunkirk": "menschlicher Mut und Zivilcourage. Hunderte Freiwillige laufen mit ihren Booten, Jachten und Schleppern von der britischen Küste aus, um ihre Jungs nach Hause zu holen. Es wird ein erster großer Triumph des Widerstandswillens". Nichts davon stimmt.



1. Zivile Freiwillige kein Massenphänomen
In Wirklichkeit fliehen die Briten unter Zurücklassung fast ihres gesamten Kriegsgeräts und dies gelingt nur deshalb, weil die Deutschen den Angriff ihrer schweren Verbände abbrechen und französische Verbände diesen Rückzug sichern. Zunächst rechnete man auf britischer Seite mit nur rund 45.000 Evakuierten. Zwar gelingt es ihnen dann u.a. rund 200.000 erfahrene britische Soldaten zu retten, deren Gefangenschaft oder Tod nur schwer zu verkraften gewesen wäre, aber dennoch bleibt es eine militärische Niederlage. Außer der Tatsache der wilden Flucht ist auch der Verlust von rund 65.000 Fahrzeugen, 2.400 Geschützen, 68.000 Tonnen Munition und rund 450 Panzern gravierend.

Auch die hunderten Freiwilligen hat es nicht gegeben, sondern in Wirklichkeit setzen die Briten weit überwiegend ihre Kriegs- und Handelsmarine ein. Zwar werden auch zivile Schiffe verwendet, jedoch mit sehr wenigen Ausnahmen ohne Mitwirkung oder oft sogar ohne Wissen der Besitzer beschlagnahmt. Die Fiktion von den zahlreichen Freiwilligen stammt ursprünglich aus einem US-Propagandafilm von 1942.

2. Dünkirchen bedeutete für viele keine Rettung
Wichtig sind auch die Männer, von denen der Film nicht handelt: die rund 40.000 Briten, die es nicht schafften und schließlich gefangen genommen wurden oder auf den unterschiedlichsten Wegen versuchten, zu fliehen. Sean Longden hat in einem relativ neuen Buch ("Dunkirk. The Men They Left Behind.") von ihren Schicksalen berichtet.

Und noch eine große Zahl von Männern findet nicht statt: Von den fast 100.000 evakuierten Franzosen und Belgiern wird der Großteil wieder nach Frankreich zurückgebracht, verstärkt die an anderer Stelle bestehende Front gegen den deutschen Vormarsch (wie unter anderem Generalfeldmarschall Erich von Manstein in seinen 1955 erschienen Buch "Verlorene Siege" berichtet) und gerät schließlich nach der Kapitulation Frankreichs doch noch in deutsche Gefangenschaft - ohne den Ausgang der Kampfhandlungen irgendwie nachhaltig beeinflusst zu haben.

3. Wiederholungen von Dünkirchen scheiterten
Das Eingeschlossensein von britischen und alliierten Truppen in Frankreich stellte keinen Einzelfall dar, sondern es gab im Folgenden mindestens zwei Versuche, Briten und andere zu evakuieren.
In Le Havre konnte die britische Marine rund 11.000 Mann abholen, die von den Deutschen zurückgedrängt worden waren. In Veules wurden rund 2.300 Briten und Franzosen evakuiert.
Allerdings wurden rund 9.000 kampffähige Soldaten in Cherbourg zusammen mit frischen Truppen wieder ausgeladen und in den Kampf geschickt. Vergeblich.
Als Frankreich zusammenbrach, flohen sie erneut: rund 30.000 Soldaten aus Cherbourg, aus St. Malo rund 21.500, aus Brest 33.000 und aus St. Nazaire 57.000. Zwar verliefen auch diese endgültigen Evakuierungen erfolgreich, doch nicht ohne Opfer, deren genaue Zahl wegen des Chaos der Flucht nicht festgestellt werden konnte.
Dass diese Fälle es nicht in das kollektive Gedächtnis der Briten oder gar 2017 ins Kino schafften, verwundert nicht.

Vielleicht hätte der Film lieber von den vielen Männern erzählen sollen, für die Dünkirchen nicht die Freiheit bedeutete...

Eine fundierte Analyse der Dünkirchen-Mythen findet sich hier (in englischer Sprache).
Ein Artikel über die anderen Fluchten der Briten vom Kontinent findet sich hier.