Krieg im Dunkeln: Desinformation und Aufklärung der Staatssicherheit


Auch über 20 Jahre nach dem Ende der DDR sind nicht annähernd alle Desinformations-, Destabilisierungs- und Aufklärungsunternehmen dieses Staates und seines Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) aufgedeckt und wissenschaftlich bewertet worden. Dafür sind nicht nur die Vernichtung gewaltiger Aktenbestände des MfS und das eiserne Schweigen vieler seiner ehemaligen Mitarbeiter verantwortlich. Dazu tragen auch das Desinteresse an der Bewältigung dieses Teils der deutschen Geschichte und die Glorifizierung einiger seiner Protagonisten bei. Der Begriff „Aufklärung“ erinnert an legendäre Spionageerfolge und hat scheinbar mit dem „Odium geheimpolizeilichen Unrechts“ nichts zu tun, wie der DDR-Spezialist Hans Wilhelm Fricke richtig darstellt.
Aufklärung und Abwehr (und damit auch Repression innerhalb der DDR) sollen von den Apologeten von einander unterschieden werden. „Hier elitäre Aufklärung, da ordinäre Abwehr - das war das Grundmuster dieser Argumentation, deren sich vor allem der langjährige Leiter der HV A [Hauptverwaltung Aufklärung im Ministerium für Staatssicherheit], Markus Wolf, und sein Nachfolger seit 1986, Werner Großmann, bedient haben“, so Fricke. Der ex-General Wolf schildert die Tätigkeiten seines Bereiches in seinen autobiographischen Büchern. Die beiden Personen, die den Staatssicherheitsdienst am wesentlichsten geprägt haben, Markus Wolf und Erich Mielke, „zwei Drahtzieher als drahtige Rentner“ wie die österreichische Tageszeitung Der Standard 1998 in einem Artikel ratlos schrieb, wurden beide rechtskräftig verurteilt (Mielke bezeichnenderweise im Zusammenhang mit einem von ihm vor dem Krieg mitbegangenen Doppelmord). Im Gefängnis befand sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels aber keiner von beiden (mehr). 
                   
             
Aufklärung und Desinformation sind nicht ohne einander denkbar. Wer Desinformations- und Destabilisierungskampagnen in einem Staat betreiben will, muss über politische, wirtschaftliche und militärische Verhältnisse und Lebensumstände entscheidender Personen informiert sein. Die Arbeit des MfS ist dementsprechend ein zweischneidiges Schwert: die eine Seite ist Desinformation und Destabilisierung, die andere die Aufklärung. Hubertus Knabe, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Berlin, stellt fest, dass es keine Trennlinie in alte Bundesrepublik und DDR gibt, sondern nur eine unsichtbare Trennlinie zwischen Opfern und Tätern, denn das Überwachungsnetz der Stasi reichte weit: „auch im Westen rekrutierte die DDR-Staatssicherheit Tausende von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM), die Aufgabe hatten, die kommunistische Macht in Ostdeutschland zu sichern“.
                    
Desinformation
Die ganze Zeit des Kalten Krieges über gelang es dem MfS, auf alle möglichen politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen in der Bundesrepublik Einfluss auszuüben. Nicht nur politische Parteien, Vereine und Privatpersonen wurden aufgeklärt, sondern man benutzte sie auch, um mit nachrichtendienstlichen Mitteln Desinformation zu betreiben, die neben aktuellen politischen Zielen insgesamt der Destabilisierung der Bundesrepublik dienten. Bereits 1955 wurde auf den damaligen Ministerpräsidenten des Saarlandes, das damals vor der Volksabstimmung noch nicht zur Bundesrepublik gehörte, ein vorgetäuschtes Attentat mittels einer Briefbombe verübt, das den Politiker und seine Umgebung in Nervosität versetzen sollte, so Knabe. Es gab weiterhin 1958 Pläne, im Vorfeld des Wahlkampfes unter dem Namen der CDU tausende Flugblätter in Westberlin zu verteilen, die andere am Wahlkampf beteiligte Parteien und ihre Kandidaten verleumden sollten, wie Knabe feststellt. In vergleichbaren Aktionen wurden immer wieder Vorwürfe gegen Politiker der CDU lanciert, die sie in Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus bringen sollten. Fallweise wurden dazu nicht nur die Dokumente aus dem Dritten Reich ausgewertet, die dem MfS zur Verfügung standen, anderen aber nicht zugänglich gemacht wurden, sondern es wurden auch bestimmte „Dokumente“ eigens für derartige Kampagnen erstellt. So wurde Heinrich Lübke kurz vor seiner Wiederwahl zum Bundespräsidenten als angeblicher KZ-Baumeister diskreditiert, Willy Brand als Regierendem Bürgermeister von West-Berlin wurden 1959 Gestapo-Kontakte angedichtet, in der schwedischen und holländischen Presse wurden im Kampf gegen die Große Koalition kompromittierende Artikel gegen Kurt Georg Kiesinger veröffentlicht, und während des Eichmann-Prozesses in Israel wurde 1961 die „Aktion J“ gegen die Bundesrepublik durchgeführt, bei der Drohbriefe unter falschem Namen versandt wurden, um den Anschein zu erwecken, es gebe einflussreiche und offen auftretende Rechtsextreme.
                                                
Minister für Staatssicherheit Erich Mielke (Mitte)
                                     
Im Sinne einer langfristigen Diskreditierung der NATO und einer Verhinderung der Zusammenarbeit mit neutralen Staaten wie Österreich im Falle eines Konfliktes ist auch der Versuch des ostdeutschen Geheimdienst-Publizisten (und Offizier im besonderen Einsatz) Julius Mader zu sehen, der 1960 in einer Darstellung des BND von engen Verstrickungen österreichischer Beamter aus Militär, Heeresnachrichtenamt, SPÖ, Polizei und Staatspolizei mit NATO und BND schreibt. Dass damit ein Keil zwischen Österreich und die NATO - insbesondere die Bundesrepublik - getrieben werden sollte, indem die in Österreich als unantastbar empfundene Neutralität als de facto von offiziellen Stellen aufgeweicht beschrieben wurde. Mader prangert aus DDR-Sicht auch rechtsextremistische Umtriebe im Nachkriegsdeutschland an, die teilweise planmäßig von der DDR gesteuert wurden. Die Verwirrung, die daraus folgt, dass eine eigene Aktion als Aktion des politischen Gegners ausgeführt wird und dann publizistisch die Möglichkeit, dass es sich um eine eigene Aktion gehandelt hat, in Abrede gestellt wird, arbeitet den Zielen der DDR in die Hände. Niemand, so könnte man mutmaßen, der für den scheinbaren Rechtsextremismus verantwortlich ist, würde von sich aus darüber öffentlich Überlegungen anstellen: „Zehn Tage später - die ganze Welt war über den in Westdeutschland aufschießenden Antisemitismus empört - trat der Bonner Kriegsminister Franz Josef Strauß in einer improvisierten Pressekonferenz in Lissabon auf. Er äußerte dort frech, dass die ‘antisemitische Kampagne das Werk kommunistischer Agitatoren’ sei. Natürlich fehlten ihm jegliche Beweise“, so Mader damals.
                         
Selbst, wenn man bei einer Desinformationskampagne auf Tatsachen zurückgegriffen hat, tat man das mit einer bestimmten Interpretation und Zielsetzung. Der ex-Chef des Bundesnachrichtendienstes, Reinhard Gehlen, beschrieb Desinformation als „grundsätzlich jede gezielte Information, welche die Adressaten in einem gewissen, vorbestimmten Sinne beeinflussen soll“.
                          
BND-Chef Reinhard Gehlen
                      
Markus Wolf definiert in seinem autobiographischen Buch „Spionagechef im Kalten Krieg“: „Die Hauptaufgaben unserer Abteilung für aktive Maßnahmen bestanden darin, die subversiven Aktivitäten der gegnerischen Seite publik zu machen und gleichzeitig durch den gezielten Einsatz von Fakten und Dokumenten, angereichert mit selbstfabriziertem Material, Personen und Institutionen der Bundesrepublik in Misskredit zu bringen, die der DDR feindlich gesonnen waren“.
Mit Desinformation ist nach Gehlens Erfahrung nicht nur die Einflussnahme auf Medien und Medienvertreter gemeint. So genannte Beeinflussungsagenten wirken als Multiplikatoren, die dank ihrer Position in der Lage sind, Nachrichten weiterzuverbreiten. Dabei müssen sich diese Agenten ihrer Tätigkeit für einen Nachrichtendienst nicht bewusst sein. Es kann sein, dass sie von nachrichtendienstlich geschulten Wissenschaftlern, Künstlern, Politikern, Journalisten oder Industriellen ohne eigenes Wissen „abgeschöpft“ und mit falschen Informationen versorgt werden. Bei einer Weiterverbreitung kann die Quelle verwischt werden.
                                
Einen der am primitivsten gefälschten Vorgänge des Ostblocks zur Desinformation beschreibt Wolf in seinen Erinnerungen wie folgt: Sowjetische Stellen schoben 1968 der Berliner Zeitung Aufnahmen von amerikanischen Panzern in Prag unter. Angeblich geschah diese Desinformation durch die Sowjets ohne Wissen ostdeutscher Stellen. Tatsächlich stammten die Panzer aus dem Requisitenfundus für den Film „Die Brücke von Remagen“, der dort gedreht worden war. Wolf betrachtete diese Maßnahme als „Indiz der Unsicherheit Moskaus“. Ob er bei einer professioneller vorbereiteten Aktion zu einem ähnlichen Schluss gekommen wäre, ist nicht sicher.
Auch die CSSR führte Aktionen gegen die Bundesrepublik und ihre Repräsentanten durch, die auf Akten über angebliche oder tatsächliche NS-Vergangenheit beruhten und im Sinne der Zielsetzung gezielt lanciert wurden. Die Operation Neptun z.B. wurde von Desinformationsexperten des CSSR-Geheimdienstes StB durchgeführt, die sich aus tschechischen Archiven mit Dokumenten versahen, die „überraschend“ und pressewirksam aus dem Schwarzen See im Böhmerwald geborgen werden sollten. Die Tschechen präparierten die Kisten, füllten sie mit unbeschriebenen Blättern und bargen sie am 3. Juli 1964 scheinbar zufällig anlässlich von Fernsehaufnahmen über Hobbytaucher. Sie wurden verschlossen nach Prag transportiert. Vor der Pressekonferenz wurden die dünnen Akten durch Papiere aus der Sowjetunion ergänzt. Es ist nicht auszuschließen, dass sie auf Grund der beabsichtigten Wirkung zumindest teilweise gefälscht wurden. Die Entrüstung über in der Bundesrepublik und Österreich im Amt befindliche Politiker und Beamte mit NS-Vergangenheit täuschte darüber hinweg, dass östliche und westliche Geheimdienste und Forschungsvorhaben in großem Umfang auf solche Unterlagen zurückgriffen.
Eine große österreichische Tageszeitung schrieb noch im August 1998, dass die Stasi sich bei Nachforschungen über Österreicher auf das Archivieren von Zeitungsberichte beschränkte. Andere Quellen zeigen jedoch, dass über 300 Telefonanschlüsse in Österreich ein ganzes Jahrzehnt lang von der Tschechoslowakei (mit Hilfe von Stasi-Personal) und der DDR aus überwacht wurde. Erwin Kemper, Mitarbeiter der österreichischen Staatspolizei (Stapo), die sich u.a. mit der Bekämpfung von Agententätigkeiten und politischem Extremismus befasst, veröffentlichte 1996 ein Buch mit dem Titel „Verrat an Österreich“, in dem er u.a. zahlreiche Aktivitäten der Stasi und anderer östlicher Geheimdienste beschreibt und durch Dokumente belegt. Offenbar bestand eine beliebte Destabilisierungsmethode Rumäniens und auch der DDR darin, nicht nur Ausreisewillige abzuschieben, sondern dem Westen auch angebliche Flüchtlinge unterzuschieben, die in Wirklichkeit extra dafür amnestierte Kriminelle waren. Im Bereich der Desinformation konnte die Stasi in Österreich unter anderem auf Ernst Schwarz alias IM [Inoffizieller Mitarbeiter] Karl Weber zurückgreifen. Schwarz war 1916 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Wien geboren worden, musste 1938 emigrieren und ging zunächst nach China, später in die DDR. Zunächst wurde Schwarz auf die APO, die außerparlamentarische Opposition der Studentenbewegung Ende der 60er Jahre, angesetzt. Die APO war nach Ansicht des Staatspolizisten Kemper deshalb für das MfS interessant, weil sie sich „die Destruktion des bestehenden Gesellschaftssystems auf die Fahnen geschrieben hatte. [...] Außerdem ergaben sich bei den Mitgliedern gute Werbechancen“ so Kemper.
In seiner alten Heimat Österreich war Schwarz, der inzwischen Professor für Sinologie geworden war und für seine wissenschaftlichen Leistungen mit der Ehrenmedaille der Stadt Wien ausgezeichnet wurde, langjährig für das MfS tätig. Er konnte sich offenbar problemlos im politischen und diplomatischen Milieu Österreichs bewegen: „IM 'Weber' fühlte sich auf dem spiegelglatten Parkett der hohen Diplomatie bald allen überlegen. Wie ein Puppenspieler musste er nur an den richtigen Fäden ziehen. Er konnte geschickt seine Gesprächspartner aushorchen und amüsierte sich am Spiel der Desinformation“. Nach Erkenntnissen des Stapo-Beamten Kemper gelang es Schwarz sogar durch seinen persönlichen Zugang den österreichischen Bundeskanzler Kreisky davon zu überzeugen, Erich Honecker - die DDR war zu diesem Zeitpunkt durch die westlichen Staaten noch isoliert - zu empfangen und ihm damit „die Tür auf das internationale Parkett zu öffnen“. Die Aktenlage beweist, dass Schwarz Kontakt zu Reportern des Spiegel, des ORF, des Magazins Time und der Zeitung Austria Today hatte (Reisebericht aus dem Jahr 1979). Auf manche Journalisten schien Schwarz Einfluss zu haben (damit ist nicht gesagt, dass es sich um die genannten Medien handelt). Ein Treffbericht von einem Führungsoffizier von Schwarz aus dem Jahr 1976 stellte laut Kemper ausdrücklich fest: „Der IM erwähnte, dass er im Bedarfsfalle auch in der Lage sei, Im Interesse der Politik der DDR ganz gezielt Informationen, auch wenn sie zur Desinformierung dienen sollen, zu verbreiten. Er sei sicher, dass seine Verbindungen und Glaubwürdigkeit ausreichen, um solche Dinge in die gewünschte Richtung und an die betreffende Adresse zu lenken“.
Markus Wolf enthüllte inzwischen, dass die DDR-Geheimdienste nicht nur die westdeutsche Friedensbewegung zur Rekrutierung neuer Mitarbeiter benutzten, sondern auch eine Gruppe von neun ehemaligen hohen Militärs der NATO-Staaten, die die Gruppe „Generale für den Frieden“ für die „Propagandaschlacht“ der DDR verwendete. Die ranghöchsten deutschen Mitglieder dieser Gruppe waren nach Wolfs Angaben der pensionierte General Graf Baudissin und der Exgeneral Gert Bastian, Lebensgefährte einer der Repräsentantinnen der Friedensbewegung, Petra Kelly.
                      
Gert Bastian erschoss 1992 Petra Kelly und sich selbst
                        
Die Geheimdienstmitarbeiter Wolfs suchten Kontakt zu dieser Gruppe, erkannten die Finanzierung ihrer Aktivitäten als entscheidendes Problem und erreichten eine jährliche Zahlung von 100.000 DM für die Öffentlichkeitsarbeit der Gruppe. Wieweit den einzelnen Mitgliedern der Gruppe die Herkunft der Gelder bekannt war, ist Wolf unklar. Er stellt aber fest, dass Positionen des Ostblocks in ihren Erklärungen wieder zu finden waren: „Dennoch erkannte man in Erklärungen der Generale den Einfluss wieder, den wir über Kade [Gerhard Kade war ehemaliger Offizier und nach Wolfs Angaben als Geschäftsführer der Gruppe tätig] ausübten“.
                                 
                         
Eine Tagung in Tutzing im Juli 1999 beleuchtete wie die westdeutsche Friedensbewegung von SED und KPdSU benutzt wurde, um einerseits die Nachrüstung der NATO zu blockieren, andererseits die Hochrüstung des Ostblocks zu negieren. Der Wissenschaftler Manfred Wilke erinnerte daran, wie die Sowjetunion das Ziel erreichbar sah, durch die Friedensbewegung Europa von den USA zu trennen. Der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan bestätigt in seiner Autobiographie den Erfolg dieser Politik des Ostens. Der so genannte Friedensrat der DDR, der an das MfS angebunden war, knüpfte Kontakte zu den westlichen Gruppen, die für eine antiwestliche Agitation am geeignetsten waren: „Vertreter bürgerlicher Schichten, insbesondere Lehrer und Dozenten, Pfarrer, Studenten und Sozialarbeiter“ wie die Tageszeitung Die Welt 1999 feststellte. Dabei schufen in gemeinsamen Strategiesitzungen „SED, DKP und die Deutsche Friedens-Union (DFU) die Plattform für den Krefelder Appell, die wohl größte Erfolgsstory kommunistischer Agitation auf westdeutschem Boden“. Anders dagegen mit denen, die ähnliches im Osten forderten. Stasi-Chef Mielke berichtete 1983 laut Die Welt an den KGB: „Fast jede Woche verhaften wir 150 Menschen“. Aus heutiger Perspektive klingen die Verstrickungen des Ostens in die Friedensbewegung klischeehaft. Sie sind aber nachweisbar. Möglicherweise gehörte das zur Erfolgreichen Verschleierung dieses Zusammenhanges. Die Nutznießer der Friedensbewegung waren so offensichtlich, dass eine Äußerung dieses Verdachtes vor der Wende und der damit verbundenen Akteneinsicht wohl als reaktionäres Vorurteil gelten musste.
                                 
Das Instrumentarium der Stasi zur Beeinflussung der so genannten kapitalistischen Länder wies eine Reihe anderer Möglichkeiten auf. Das MfS bestach in der Bundesrepublik z.B. nicht nur Abgeordnete, sondern förderte auch verschiedene Gruppierungen wie z.B. die Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluß und befasste sich nach Erkenntnissen von Knabe mit der paramilitärischen Ausbildung „einer geheimen Militärorganisation der DKP, deren mehrere hundert Mitglieder in Krisenfällen als 'Partisanenarmee' tätig werden sollten“. Markus Wolf formulierte: „Wir nutzten unsere Verbindungen zu Abgeordneten des Bundestages so weit wie möglich, um das Abstimmungsverhältnis zu beeinflussen - immerhin waren wir der Haltung [gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze im Sommer 1968] etwa eines Dutzends Abgeordneter sicher, die ihrerseits nichts unversucht gelassen hatten, um auf andere einzuwirken.“
                        
Die Zersetzungsarbeit war in einer Richtlinie des MfS genau festgelegt. Die von Fricke zitierte Richtlinie beschrieb die Lancierung von Desinformationen zur „systematischen Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben“ bis zur „systematischen Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Misserfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen“. Neben den Desinformations- und Destabilisierungskampagnen verfügte die DDR auch über militärische Propagandaeinheiten. Besondere Abteilungen der NVA für Spezialpropaganda nahmen sowohl Aufgaben der taktischen und strategischen Propaganda war, als auch Aufgaben im Bereich der Aufklärung und Dokumentation westlicher Medien aller Art. Für derartige Aufgaben wurden häufig Reservisten eingesetzt, die z.B. als Journalisten über entsprechende zivilberufliche Qualifikationen verfügen. Neben der genauen Beobachtung und Dokumentation der privaten und öffentlich rechtlichen Medien, insbesondere des Deutschlandfunks, wurde auch systematisch das gesamte Schrifttum ausgewertet, in dem Angaben über die NATO oder auch die eigene NVA und den Warschauer Pakt vermutet wurden. Die zivilen Journalisten in der DDR hatten nach Ansicht des Germanisten Christian Bergmann „ihren Erziehungs- und Bildungsauftrag voll realisiert. Die Journalistinnen und Journalisten der DDR verstanden sich als Propagandisten und Agitatoren der herrschenden Partei. Im ideologischen Klassenkampf standen sie auf Grund der 'Feindnähe' in der 'vordersten Front’“. Sie wurden mit der Begründung zu permanenter Wachsamkeit aufgerufen, dass ständig Diversion und Störmanöver durch den Gegner im kapitalistischen Ausland drohten. Mit dieser Begründung konnten durch das MfS gesteuerte Desinformationen auch in den Medien der DDR ungehindert erscheinen.
                                 
Die DDR-Medien waren derartig gelenkt, dass man nicht ansatzweise von freiem Journalismus sprechen kann. Erich Honecker persönlich legte z.B. in wichtigen Fällen die Sprachregelung fest. Bei einer Annäherung Honeckers mit Herbert Wehner 1973 bestimmte er, dass Wehner fortan nicht mehr als H. Wehner, sondern mit vollem Vornamen im Neuen Deutschland genannt werden musste - nach Beschreibung von Markus Wolf eine bevorzugte Behandlung Wehners. Wolf gibt zu, dass der Versuch scheiterte, im Westen unerkannt und effektiv eigene Medien zu publizieren, und dass deshalb neben dem Kontakt zu Journalisten die Schaffung fiktiver Pressedienste von CDU und SPD als Alternativen übrig blieben. Neben Recherchehilfen für Journalisten arbeiteten an den Hintergrunddiensten Spezialisten, die Stil und Diktion einzelner Bundespolitiker täuschend ähnlich nachahmen konnten.
                  
Aufklärung
Die Aufklärung der Staatssicherheit nahm gegen Ende des Kalten Krieges nicht etwa ab, sondern im Gegenteil nahmen Anstrengungen, den Westen nachrichtendienstlich zu durchdringen in den 80er Jahren weiter zu „je deutlicher die Anzeichen für den politischen und ökonomischen Niedergang der DDR wurden“, so Knabe. Für verschiedenste Aufklärungsaufgaben verfügte allein das MfS über 91.000 hauptamtliche und mehr als doppelt so viele Inoffizielle Mitarbeiter. Allein die Überwachung von Telefonanschlüssen in der Bundesrepublik scheint uferlos: zwischen 30.000 und 40.000 Anschlüsse wurden nach Aussagen des verantwortlichen MfS-Mitarbeiters überwacht. Von Interesse waren nicht nur Regierung und Opposition, sondern alle Personen und Gruppen, die von Bedeutung für das politische Leben der Bundesrepublik und der DDR hätten sein können, z.B. die Non-Government Organisationen Amnesty International und Greenpeace, Zentren für Oststudien an Universitäten und anderen Einrichtungen, Rundfunksender und Zeitungen oder die Bundeszentrale für politische Bildung. Offenbar war das MfS über die Verhältnisse der meisten Organisationen jeweils umfassend informiert. Darüber hinaus wurde seit den 80er Jahren eine umfangreiche Computerspionage betrieben, um in fremde Datennetze einzudringen und technisches Know-How auszuspionieren. Sämtliche Nachfolgemodelle des Kampfflugzeuges „Starfighter“ konnten beispielsweise vom MfS dokumentiert werden. Die DDR verfügte nach Informationen des Industrie und Handelstages (DIHT) in jedem wichtigen Bereich der bundesdeutschen Wirtschaft über hauptamtliche Spione, die sie am Technologievorsprung des Westens teilhaben ließen. So stellt der DIHT in einer Untersuchung 1996 fest, dass auch westdeutsche Hochschulen Ziel intensiver Ausspähung waren. Zu 44 Forschungseinrichtungen gab es jeweils eine eigene Diensteinheit des MfS. Die fehlende Aufarbeitung der Vergangenheit zeigte sich später u.a. an der Universität Kassel, deren Leitung sich trotz mehrerer aufgedeckter Fälle von Stasi-Mitarbeit wiederholt gegen eine generelle Überprüfung ihrer Angestellten ausgesprochen hat.
                                      
Willi Brand und Günter Guillaume (rechts vorne)
                            
Außer Günter Guillaume, der in unmittelbarer Nähe zu Willy Brand spionierte, konnten noch andere Top-Spione des MfS lange unerkannt berichten. Dazu zählen unter anderem eine Regierungsdirektorin beim BND, die erst nach der Wende identifiziert wurde und ein Mitarbeiter im Stab der NATO in Brüssel. Im Gegenzug griff die DDR bis in die 80er Jahre auch zu Hinrichtungen, um „Verrat“ in den eigenen Reihen zu ahnden. Das Todesurteil gegen den DDR-Hauptmann Werner Teske, der 1981 in Leipzig erschossen wurde, stand z.B. sieben Wochen vor Verhandlungsbeginn fest wie Fricke berichtet. Selbst Spionagechef Wolf gibt zu, dass die Vollstreckung des Todesurteils nach DDR-Recht falsch war: „Dass Teske vor ein Militärgericht gestellt und zum Tode verurteilt wurde, war juristisch nicht zu rechtfertigen, denn es war nicht zum Verrat gekommen. Unverständlich war dieses Urteil, das keine abschreckende Wirkung haben konnte, denn es wurde nicht bekannt gegeben“.
                                   
Aufklärung des potentiellen Gegners war auch eine der Hauptaufgaben von Sonderabteilungen der Grenztruppen der DDR, der „Aufklärungsgruppen“, die aus Offizieren des MfS gebildet wurden. Zur „Grenzaufklärung feindwärts“ wurden Nachrichtenmittel wie Richtmikrophone, Ferngläser und Fotoapparate mit Teleobjektiven genutzt. So genannte „Aufklärungstunnel“ an bestimmten Grenzabschnitten erlaubten die Zu- und Abschleusung von Personen in die Bundesrepublik. In Ergänzung zu den Wahrnehmungen der Aufklärungsgruppen erstreckten sich die Aktivitäten des MfS auf die Erstellung von so genannten Agenturmeldungen über Verhalten und Personalien von Führungsorganen des Bundesgrenzschutzes, der Bundeswehr, der Alliierten, westlicher Nachrichtendienste und Regierungsbeamten wie Lapp beschreibt.
                    
Die Friedensbewegung: In Teilen "ferngesteuert" aus Ostberlin
                                   
Dass die DDR mit der Identifizierung von Zielpersonen im Westen nicht nur deren Überwachung im Sinne hatte, zeigen die Ergebnisse einer Untersuchung von Thomas Auerbach, Mitarbeiter beim Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen, an. Das MfS verfügte über eine besondere Einheit, deren Aufgabe es war, bei Bedarf gegen wichtige Funktionsträger und Zielobjekte in der Bundesrepublik mit Terrorhandlungen vorzugehen. Geplante Handlungen und Ausbildung reichten - wie Auerbach anhand der Aktenlage nachweist - von Sprengstoffanschlägen über Geiselnahme und Vergiftung von Trinkwasser bis zum Mord. Die Planungen fügten sich in ein globales Konzept zur Durchsetzung sowjetischer Interessen gegen den Westen ein. Zur Überwachung des Telefon- und Faxverkehrs in Österreich wurden nach einem Bericht des Staatspolizei-Beamten Erwin Kemper funkelektronische Abhöranlagen in der CSSR eingerichtet. Drei derartige Anlagen im Raum Preßburg wurden von MfS-Mitarbeitern betrieben, so dass allein in Österreich mehrere Hundert Personen und Institutionen abgehört werden konnten. Nach Erkenntnissen Kempers, die sich offenbar auf Auswertung von Stasi-Akten stützen, war das MfS bei Personen in erster Linie an kompromittierenden Aktivitäten im Privatbereich interessiert, während bei Firmen die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen abgehört werden sollten. Kemper kommt angesichts des technischen Standards des MfS und des CSSR-Geheimdienstes und der enormen Zahl von 6.000 bis 7.000 MfS-Mitarbeitern in der Abteilung für funkelektronische Aufklärung zu dem Ergebnis, dass es möglich war, „den Originalfunk und den öffentlich beweglichen Landfunk [in Österreich] zu 100 Prozent zu erfassen. Das bedeutet, dass davon ausgegangen werden muss, dass sämtliche Observationen der österreichischen Sicherheitsdienststellen im ostösterreichischen Raum direkt mitgehört wurden“. Im Buch Kempers sind Originaldokumente als Faksimile abgebildet. Darunter u.a. ein internes Schreiben der Stasi vom 23.6. 1987, in dem die Telefonüberwachung des österreichischen Ministers für öffentliche Wirtschaft und Verkehr angeordnet wird. Mit der Begründung man wolle Hinweise zur Regierung Österreichs und ihrer Aktivitäten gewinnen, wird der Informationsbedarf wie folgt beschrieben: „Differenzen innerhalb der österr. Regierungskoalition, HW [Hinweise] auf die DDR u.a. soz. Staaten betreffende Maßnahmen, HW auf kompromittierende Aktivitäten, insbesondere Privatbereich“. Die Überwachung gegnerischer und eigener Kräfte wurde in der DDR mit einer kaum vorstellbaren Genauigkeit betrieben. Selbst die Grenztruppen der DDR mit besonders ausgesuchtem Personal wurden genauestens überwacht, um regimekritische Einstellungen, mögliche Disziplingefährdungen, Empfang westlicher Rundfunksender, Verbindungen ins so genannte nicht-sozialistische Ausland und Probleme im persönlichen Umfeld feststellen zu können. Dazu bediente man sich der Telefon- und Postüberwachung und der ständigen Aufsicht durch Disziplinarvorgesetzte, Kameraden und die „Kommission 1“, die in jedem militärischen Verband gebildet wurde und sich in Zusammenarbeit mit dem MfS ausschließlich mit Sicherheits- und Erziehungsfragen des Personals befasste. DDR-Bürger, die von der Stasi festgenommen worden waren, mussten - als perverser Gipfel des Überwachungsstaates - auf Tüchern Proben ihres Körpergeruchs aus dem Intimbereich nehmen lassen. Hunderte von solchen Geruchsproben in Gläsern fand man bei der Besetzung der Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße 1990. Zusätzlich kontrollierte eine Parteikontrollkommission der SED die Grenztruppensoldaten und schätzte ihre politische Zuverlässigkeit ein, ob es sich bei den Betroffenen um Parteimitglieder handelte oder nicht. Aus der gesamten Beurteilung der Grenztruppensoldaten ergab sich dann die Einteilung in fünf Verwendungskategorien, die bei der Planung der Einsätze berücksichtigt werden mussten. Diese geheim gehaltenen Kategorien regelten, wer mit wem zusammen eingesetzt werden musste, um Republikfluchten der Grenztruppensoldaten unmöglich zu machen. Dass auch dieses System nicht unfehlbar war, zeigte sich an den Zahlen der in den Westen geflohenen Angehörigen der Grenztruppen. Zwischen 1961 und 1986 flohen insgesamt 2.500 Angehörige der bewaffneten Organe der DDR. Den größten Anteil stellten Grenztruppensoldaten und auch Offiziere. Auf der anderen Seite wurden allein 1988 2.312 Personen beim versuchten Grenzübertritt festgenommen.
                 
Anhand dieser beispielhaften Darstellung eines Bereiches der Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit und der Nationalen Volksarmee der DDR wird deutlich, dass Aufklärung und Desinformation einander bedingt haben. Die einzelnen Methoden - von der Briefbombe bis zur Unterstellung rechtsextremer Ansichten - sind sicherlich nicht auf die Bundesrepublik beschränkt geblieben. Auch eine Einteilung in West und Ost in der Täter- und Opfer-Frage ist unmöglich. Die Tätigkeiten des MfS auch in den Medien und im politischen Leben der Bundesrepublik verdienen eine noch wesentlich weitergehende wissenschaftliche Durchleuchtung.

Verweise
Stasi und ANC/SWAPO (Südafrika/Südwestafrika)
Stasi und ZANU/ZAPU (Rhodesien)
               
Literatur
- Thomas Auerbach: Einsatzkommandos an der unsichtbaren Front. Terror- und Sabotagevorbereitungen des MfS gegen die Bundesrepublik Deutschland. 2001.
- Christian Bergmann: Die Sprache der Stasi. Ein  Beitrag zur Sprachkritik. 1999.
- Karl-Wilhelm Fricke: Die DDR-Staatssicherheit. Entwicklung, Strukturen, Aktionsfelder. 1992
- Reinhardt Gehlen: Der Dienst. 1971.
- Georg Herbstritt und Helmut Müller-Enbergs: Das Gesicht dem Westen zu. DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland. 2003.
- Hubertus Knabe: Der diskrete Charme der DDR. 2001.
- Peter Lapp: Frontdienst im Frieden. Die Grenztruppen der DDR. 1986.
- Erwin Kemper: Verrat an Österreich. 1996.
- Ronald Reagan: Erinnerungen. Ein amerikanisches Leben. 1998.
- Markus Wolf: Spionagechef im Geheimen Krieg. 1997.
- Manfred Wilke und Jürgen Maruhn: Die verführte Friedensbewegung. 2002.